Sollten Eltern mehr als ein Kind annehmen? Drucken E-Mail

Gedanken einer Adoptivmutter

Viele Paare wünschen sich mehr als ein Kind - unabhängig davon, ob es um leibliche oder angenommene Kinder geht. Es gibt natürlich viele verschiedene Gründe für diesen Wunsch, einer trifft  aber speziell für (potentielle) Adoptiv- bzw. Pflegeeltern zu: Sie hoffen, dass ihre Kinder sich später über ihre besondere Situation und die damit verbundenen Erfahrungen und Gefühle austauschen können.

Denn angenommene Kinder sind in der Gesellschaft in der Minderheit und treffen bei ihren „normalen“ Freundinnen und Freunden nicht unbedingt auf Verständnis, wenn es um „ihr“ Thema geht. Dieses Argument ist  - neben den vielen anderen, die für die Aufnahme mehrerer Kinder sprechen -  sicher stichhaltig. Dennoch sollten betroffene Paare sich sehr gut überlegen, ob es wirklich für alle Beteiligten das beste ist, wenn sie mehr als ein Kind adoptieren bzw. in Pflege nehmen.
Die Erfahrungen vieler Adoptiv- und Pflegeeltern mit zwei (oder mehr) Kindern zeigen nämlich, dass  ihr Familienleben oft viel schwieriger ist als das von „normalen“ Familien. Selbstverständlich gibt es in allen Familien Konflikte: Die Schwierigkeit, unterschiedliche Interessen unter einen Hut bringen zu müssen, Eifersucht zwischen Geschwistern, die manchmal sogar zu Handgreiflichkeiten führt, oder das Gefühl, dass man es als Elternteil keinem Kind recht machen kann dürfte den allermeisten Familien bekannt sein. 
Dennoch ist unsere Situation als annehmende Eltern damit nicht wirklich vergleichbar!


Unsere Kinder kommen alle mit einem (mehr oder weniger) schweren Rucksack in unser Leben. Die Trennung von der leiblichen Mutter ist für viele angenommene Kinder traumatisierend. Auch wenn man das lange Zeit nicht merkt und die Kinder „völlig normal“ erscheinen, ist diese schmerzliche Erfahrung prägend! Sie sind insgesamt verletzlicher, leiden mehr unter Zurückweisungen und sind unsicherer in Bezug auf ihren Selbstwert und die Bindungsstabilität zu den annehmenden Eltern als leibliche Kinder. Verlustängste, die auf die erste Trennung (oder sogar mehrere Trennungen, wenn das Kind noch in anderen Pflegefamilien war) zurückzuführen sind, plagen unsere Kinder oft sehr lange.
Hinzu kommt, dass unsere Kinder meist überdurchschnittlich stressanfällig sind. Die neuere Hirnforschung hat gezeigt, dass Kinder, die im Mutterleib starkem Stress ausgesetzt waren – und davon kann man wohl bei den meisten angenommenen Kindern ausgehen – , deutlich mehr „Stressrezeptoren“  im Gehirn entwickeln. Hat ein Mensch viele dieser Rezeptoren, reicht bereits eine geringere Konzentration an Stresshormonen aus, um die typischen Reaktionen auszulösen. Das erklärt die Beobachtung vieler Adoptiv- und Pflegeeltern, dass ihr Kind negativ auf Belastungen, Anforderungen, Reizüberflutung etc. reagiert. Die Eltern müssen dann für eine möglichst ruhige Atmosphäre sorgen und selbst natürlich sehr ruhig agieren können. Ein Geschwisterkind wird allerdings häufig ein ziemlich starker Stressor sein und die Familiensituation dadurch deutlich belasten. 
Auch wenn sie scheinbar schon „groß“ sind, sind viele Adoptiv- bzw. Pflegekinder emotional nicht auf der Stufe, die ihrem Alter entspricht. Es fällt ihnen z.B. oft schwer, Bedürfnisse zurückzustellen. Das kann die Eltern schon an ihre Grenzen bringen, wenn sie nur ein Kind haben. Gibt es aber ein weiteres Kind in der Familie, verschlimmert sich die Lage. Denn dann kommt es zwangsläufig zu Situationen, in denen dieses die volle Aufmerksamkeit der Mutter benötigt, z.B. wenn das Baby das Fläschchen bekommt, wenn das Kleinkind sich weh getan hat, wenn das Schulkind jeden Tag längere Zeit Hilfe bei den Hausaufgaben braucht … Auch wenn man sich später ganz dem anderen Kind widmet (was keineswegs immer  einfach ist!), fühlt es sich in diesen Situationen zurückgewiesen und abgelehnt.  Sicher erleben auch leibliche Kinder solche Situationen, aber annehmende Eltern sollten sich darüber im Klaren sein, dass ihre Kinder diese Gefühle viel extremer empfinden und wesentlich mehr darunter leiden. Die Mittel, die das Kind dann einsetzt, um die vollkommene Zuwendung der Mutter zu bekommen, erscheinen den Eltern manchmal wie ein Kampf um Leben und Tod.  Anfangs kann man dem sicher mit Verständnis und Geduld begegnen, aber auf Dauer ist es für die betroffenen Eltern nur schwer auszuhalten und alle leiden unter der Situation.                  

Viele unserer Kinder haben Entwicklungsverzögerungen, Lernschwierigkeiten bzw. -behinderungen, Aufmerksamkeitsstörungen, mangelnde Impulskontrolle, Anstrengungsverweigerung, FAS und/oder weitere gesundheitliche Probleme. Manche dieser Probleme sind schon bei Babies und Kleinkindern ersichtlich, andere treten erst in Krisenzeiten, wie z.B. Einschulung, Pubertät etc. auf. (Gerade Eltern eines offensichtlich unproblematischen Kleinkindes sollten nicht davon ausgehen, dass das so bleibt. Wenn doch, dann umso besser!) Die genannten Probleme machen den Alltag nicht unbedingt leichter, denn schließlich leben Adoptivfamilien nicht im luftleeren Raum, sondern mitten in der Gesellschaft. Diese erwartet leider, dass Kinder „funktionieren“, wodurch der Druck auf Kinder und Familien sehr stark werden kann.
Außerdem erfordern die Beeinträchtigungen häufig spezielle Therapien. Wenn man nur ein Kind hat, ist das in der Regel gut zu schaffen. Hat man aber mehrere – die möglicherweise zu unterschiedlichen Therapien gebracht werden müssen – zeigt die Erfahrung, dass das im Alltag sehr belastend wird. Natürlich werden auch viele leibliche Kinder zu Therapien gebracht und die Geschwisterkinder in dieser Zeit „wegorganisiert“, aber mit unseren Kindern ist das oft nicht leicht zu machen: Sie leiden unter Trennungsängsten, wenn sie bei einem Babysitter sind oder fühlen sich abgeschoben, wenn sie bei Freunden spielen sollen (sofern sie überhaupt Freunde haben – denn das ist für viele angenommene Kinder auch nicht selbstverständlich!)

Adoptiv- bzw. Pflegeeltern haben sehr oft das Gefühl, „bessere Eltern“ sein zu müssen und setzen sich besonders stark unter Druck. Sie leiden dann sehr leicht unter dem Gefühl, zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen mehrerer Kinder zerrissen zu werden und haben oft ein schlechtes Gewissen, weil sie es keinem recht machen können.  Denn jede Entscheidung „für“ das eine Kind – und das können wirklich so banale Dinge sein wie die Frage, wer zuerst Zähne putzt – ist automatisch eine Entscheidung „gegen“ das andere. Natürlich kann man sich vornehmen, alles gerecht zu machen, aber der Alltag zeigt, dass dies nicht machbar ist – zumindest aus der Sicht unserer Kinder.
Kinder müssen natürlich auch lernen, mal zurückzustecken. Das ist gut und richtig. Aber für unsere Kinder ist das aufgrund der entsprechenden Erfahrungen oder sogar Beeinträchtigungen ungleich schwerer als für leibliche Geschwisterkinder. Deshalb benötigen sie in solchen Situationen besonders ruhige und ausgleichend wirkende Eltern. Wenn diese aber selbst aufgrund der ständigen Konflikte und Grabenkämpfe schon zermürbt sind und die Nerven blank liegen, können sie dies nicht mehr leisten. Dann kann es schon dazu kommen, dass die Eltern sich wünschen, sie hätten diesen Schritt nicht getan und sich fragen, ob es nicht für beide Kinder (und sie selbst) besser gewesen wäre, jedes Kind wäre das einzige, geliebte und optimal geförderte Kind in verschiedenen Adoptivfamilien.  

Eltern, die mehr als ein Kind annehmen möchten, sollten sich das sehr genau überlegen. Die entstehenden Probleme werden nämlich leider oft völlig unterschätzt. Nur wenn die Eltern ganz ehrlich von sich sagen können, dass sie sehr gelassen, nicht zu harmoniebedürftig und nicht konfliktscheu sind, sowie Unterstützung durch ein gutes soziales Netz haben, sollten sie diesen Schritt machen.    
Auch die zuständigen Vermittlungsstellen sollten meiner Meinung nach sehr genau prüfen, ob es für das Wohl des Kindes besser ist, als Geschwisterkind in eine bestimmte Familie zu kommen oder doch lieber als erstes und einziges Kind in eine andere.

 
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