Martin R. Textor zur Adoptionsaufklärung Drucken E-Mail
Martin R. Textor schreibt 1988 über die wissenschaftliche Forschung zur Adoptionsaufklärung. Auch heute sind sicher große Teile davon noch aktuell:

 

12. Aufklärung des Kindes über seine Adoption

Die Aufklärung des Kindes über seinen Sonderstatus wird von den meisten Adoptiveltern als ein großes angsterzeugendes Problem gesehen (Seglow, Pringle und Wedge 1972; Pfeiffer, Pfeiffer- Schramm und Scheller 1980; Sorosky, Baran und Pannor 1982; Hoffmann-Riem 1984). Viele machen sich von Anfang an Gedanken darüber, wann, wie und in welchem Ausmaß sie die Kinder über ihre Adoption und ihre Herkunft informieren sollen, welchen Stellenwert dieses Wissen in deren Leben haben wird und von welcher Relevanz die leiblichen Eltern sein werden. Auch fragen sie sich, wer außerhalb der engsten Familie über die Adoption unterrichtet werden sollte (Sorosky, Baran und Pannor 1982; Hoffmann-Riem 1984). Diese Schwierigkeiten werden teilweise durch die Furcht der Adoptiveltern verursacht, daß sie das Kind nach der Aufklärung verlieren könnten oder daß die Eltern-Kind-Beziehung darunter leiden könnte. Zudem erinnert sie die Aufklärung an die eigene Infertilität und an ihren Sonderstatus - daß sie eben keine "normale" Familie sind. Ferner mögen sie über die Herkunft des Kindes unglücklich sein oder dessen Stigmatisierung befürchten. Schließlich wird die Aufklärung als eine Art Doppelbindungssituation gesehen: Die Eltern sollen dem Kind mitteilen, daß es ihr Kind ist, aber auch nicht ihr Kind ist - sie sollen es in ihre Familie integrieren, ihm aber zugleich einen Sonderstatus geben (Seglow, Pringle und Wedge 1972; Pfeiffer, Pfeiffer-Schramm und Scheller 1980; Kirk 1981; Aselmeier-Ihrig 1984; Lindsay und McGarry 1984).

Dennoch entscheiden sich die meisten Adoptiveltern für eine Aufklärung, da sie darin ein Recht des Kindes sehen, die damit verbundenen Informationen für außerordentlich wichtig halten und nicht wollen, daß es von Dritten aufgeklärt wird (Vermeidung eines Vertrauensbruchs) (Hoffmann-Riem 1984) . So waren 92% der von Seglow, Pringle und Wedge (1972) befragten 104 britischen Adoptivelternpaare der Meinung, daß Kinder über Adoption und Herkunft informiert werden sollten. Nur 6% der Grundgesamtheit (n=145) hatten ihr siebenjähriges Kind noch nicht aufgeklärt. Jedoch hatten 16% ihm sehr wenig erzählt, also z.B. nicht erklärt, was Adoption heißt. Nur 20% hatten immer wieder und sehr ausführlich mit ihm über die Adoption gesprochen. Knoll und Rehn (1984/85) stellten bei der Untersuchung von 65 deutschen Familien mit jugendlichen Adoptivkindern fest, daß in 18 Fällen das Kind bis 3, in 27 bis 5, in 14 bis 10 Jahre und in 3 Fällen nach dem 11. Lebensjahr aufgeklärt wurde; zwei Elternpaare hatten es noch nicht informiert. In knapp der Hälfte aller Fälle erfolgte die Aufklärung durch die Mutter, ansonsten durch beide Eltern gemeinsam.

Knoll und Rehn (1984/85) ermittelten auch, daß eine frühzeitige Aufklärung des Kindes über seine Adoption zu wesentlich positiveren Einstellungen gegenüber der Herkunftsfamilie, einer größeren Widerstandskraft gegenüber Vorurteilen, einer geringeren Empfindlichkeit und Irritierbarkeit sowie einer größeren Standfestigkeit der Adoptierten führte. Zudem war in solchen Familien das Klima durch mehr Offenheit, weniger Kontrolle und eine mehr intellektuelle Orientierung gekennzeichnet. Über 80% der Adoptiveltern (und der adoptierten Jugendlichen) stellten nach der Aufklärung keine Verhaltensänderungen bei den Kindern fest, während sich bei knapp 20% die Eltern-Kind-Beziehung veränderte - zu gleichen Teilen festigte oder lockerte. Bei einer Befragung von 30 deutschen Adoptivfamilien fand Hoffmann-Riem (1984) heraus, daß die Aufklärung zumeist mit der Frage "War ich auch in Deinem Bauch?" eines etwa dreijährigen Kindes beginnt, wobei dieses die verneinende Antwort zumeist mit großer Gelassenheit hinnehmen würde. Die Freigabe durch die leibliche Mutter wird zumeist als unvermeidbare Notwendigkeit dargestellt und dann wird auf die liebevolle Aufnahme durch die Adoptiveltern übergeleitet. Somit bleibe die Vorgeschichte im Dunkeln, würden die leiblichen Eltern nicht als Personen konkretisiert werden.

Nach der ersten Aufklärung scheuen sich viele Adoptiveltern, von sich aus erneut das Thema "Adoption" aufzugreifen, da dieses sie an den Sonderstatus ihrer Familie erinnert. Oft warten sie auch auf Fragen der Kinder, während diese auf Erklärungen der Eltern warten (Kadushin 1970; Seglow, Pringle und Wedge 1972; Kirk 1981) . So schreiben Sorosky, Baran und Pannor (1982): "Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube anzunehmen, daß sich das Kind nicht für seine leiblichen Eltern interessiert, wenn es keine Fragen stellt. Das Kind wartet im Gegenteil häufig darauf, daß die Adoptiveltern mit diesem Thema anfangen, bevor es weiterfragt" (S. 80). So ist es nicht verwunderlich, daß 25 der von Knoll und Rehn (1984/85) befragten 65 deutschen Adoptivelternpaare berichteten, daß sie mit ihrem Kind kaum über seine Herkunft sprechen, um seine Entwicklung und Integration in die Familie nicht zu gefährden. Auch würden 29 Jugendliche nie, 15 selten und 12 nur manchmal den Wunsch nach weiteren Informationen über ihre Vergangenheit äußern (7 Jugendliche oft). Die Befragung von 55 Jugendlichen ergab jedoch, daß nur 11 nie und 17 selten an die Zeit vor der Adoption denken. Deshalb kommen Knoll und Rehn zu folgendem Schluß: "Knapp 40% der Adoptiveltern erklären anscheinend von sich aus die Herkunftsfamilien zum Tabuthema. ... Offenbar möchten sie am liebsten an ihre Kinder überhaupt keine Informationen weitergeben und die leiblichen Eltern aus dem gemeinsamen neuen Leben verdrängen" (S. 73).

Auch Kirk (1981) stellte bei der Befragung von 632 kanadischen Adoptivmüttern fest, daß 93% der Mütter, die wenig mit ihren Kindern über die Adoption sprechen, auch von wenig Fragen derselben berichteten. Ein genau entgegengesetztes Verhalten der Kinder wurde aber von Frauen erwähnt, die oft von sich aus mit ihnen über ihre Herkunft sprechen. Zugleich ermittelte Kirk, daß eine derartig offene Kommunikation mit einem besseren wechselseitigen Vertrauensverhältnis, einer höheren Empathie der Mütter und einer größeren Anerkennung der Unterschiede zwischen biologischen und Adoptivfamilien korreliert. Knoll und Rehn (1984/85) fanden heraus, daß in solchen Familien ein größerer Zusammenhalt, eine bessere Organisation, eine geringere Konfliktneigung und eine höhere intellektuelle Orientierung vorherrschen, während Seglow, Pringle und Wedge (1972) auf eine positivere Einstellung der Adoptiveltern gegenüber den leiblichen Eltern verweisen.

Eine ausführliche Information des Kindes über seine Herkunft kann jedoch auch zu einem immer größer werdenden Interesse und zu immer mehr Fragen führen. Viele Adoptiveltern sind aufgrund ihrer Haltung, daß Adoptivfamilien ganz normale Familien seien, auf ein derartiges Verhalten nicht vorbereitet und fühlen sich oft in ihrer Rolle und Eignung als Eltern in Frage gestellt. Sie glauben, irgendwie versagt zu haben und die Liebe ihres Kindes zu verlieren. Dieser Konflikt um die doppelte Elternschaft kann noch dadurch verschärft werden, daß das Kind auch von seinen leiblichen Eltern als Vater und Mutter spricht. Obwohl also viele Adoptiveltern durchaus den Wunsch des Kindes nach Informationen über seine Vorgeschichte erkennen, können sie die Relevanz des Herkunftswissens für dasselbe nur schwer ertragen (Sorosky, Baran und Pannor 1982; Ensminger 1984a; Hoffmann-Riem 1984; Plog 1984).

Wenn ein Kind auf Konkretisierung der "anderen" Herkunft drängt, stellt sich für Adoptiveltern die Frage, welche weiteren Informationen sie preisgeben sollen. Auch hier reagieren sie auf höchst unterschiedliche Weise: Sie mögen die leiblichen Eltern wahrheitsgetreu beschreiben oder Informationen verschweigen, beschönigen bzw. verzerren. Auch können sie Verdächtigungen, negative Einstellungen oder ihre Gefühle gegenüber den biologischen Eltern entweder zeigen oder zu verbergen suchen. Oft scheuen sie sich, negative Details weiterzugeben, belügen das Kind oder täuschen Unwissen vor, um ihm ein akzeptables Bild von seinen leiblichen Eltern zu vermitteln. Dabei leisten sie vielfach aber nur Phantasien, Illusionen und Tagträumen Vorschub. Auch wurde festgestellt, daß Adoptiveltern bei einer guten Eltern-Kind-Beziehung die leiblichen Eltern eher positiv, ansonsten mehr abwertend darstellen. Bei der Adoption älterer Kinder wird jedoch in der Regel ein negativeres Bild von ihnen gezeichnet, wozu ihr Verhalten (z.B. Vernachlässigung, Mißhandlung, sexueller Mißbrauch) ja auch Anlaß gibt (Kadushin 1970; Hoffmann-Riem 1984; Lutter 1985)."

Noch heute scheint ein Großteil der Aussagen zuzutreffen!

 

 
< zurück   weiter >
© 2007 Adoption unser Weg | © Template by goP.I.P. | valide xhtml | valide css | joomla.org
Webdesign auf Usedom and Joomla