Pränatale Bindung, Dr. Agathe Hug Drucken E-Mail

Fachabend: Zusammenfassung der Ausführungen von Frau Dr. Hug

Am 1. Oktober trafen sich 28 Zuhörer in der Caritas Sozialstation Obertiefenbach. Viele davon Adoptiveltern, einige Bewerber und Adoptierte. Aber auch Zuhörer, für die das Thema Adoption keine Bedeutung hat, waren der Einladung unseres Vereins gefolgt, sich einen Vortrag zum Thema „Pränatale Bindungen“ anzuhören. 


Frau Dr. Hug schickte ihren Ausführungen zum Thema vorweg, dass sie zunächst 9 Jahre Erzieherin war, bevor sie Gynäkologin wurde. Als Frauenärztin beschäftigt sie sich intensiv mit pränataler Psychologie. Ihre Dissertation schrieb sie zum Thema „Vorbedingungen für die pränatale Mutter-Kind-Bindung“. Hintergrund für dieses Dissertationsthema war die sich ihr stellende Frage, wie es kommt, dass Frauen abtreiben können. Praktische Konsequenz ihrer Untersuchungen ist für Adoptiveltern die Antwort auf die Frage: „Wie kommt ein Adoptivkind z.B. im Alter von 5 Jahren dazu, die leibliche Mutter suchen zu wollen, obwohl das Kind doch alles hat, was es braucht?“ Antwort: Pränatale Bindung. 

Eine Vorbemerkung war Frau Dr. Hug noch wichtig: Auch wenn es für sie unbestritten pränatale Bindung gibt, die grundsätzlich gut für das Kind ist, so kann es doch durchaus Gründe für eine Adoption geben und die Weggabe das Beste für das Kind sein. 

 Wir sahen dann einen ca. 20-minütigen Film, der von der Eheschließung bis zur Geburt eines Kindes reichte. Zunächst wurde ausführlich die Befruchtung der reifen Eizelle mit einer von 5 Millionen Samenzellen gezeigt, bei der 23 Chromosomen von der Samenzelle in den Kern der Eizelle eingebracht werden, die ebenfalls 23 Chromosomen enthält. Durch diese Verschmelzung entsteht ein neuer, einzigartiger Mensch. Es beginnt eine Zellteilung, nach einer 4-tägigen Reise durch den Eilleiter schlüpft der Embryo aus der Membran der Eizelle und nistet sich nach ca. 5 bis 7 Tagen in der Gebärmutter ein. Nach 24 Tagen ist das Herz bereits sichtbar, es beginnt nach 5 Wochen zu schlagen. In der 5. Woche werden auch die Arme angelegt (Embryo 1 cm), in der 6. Woche (1,5 cm) beginnen sich Ohren, Nase und Mund zu bilden Versorgt wird der Embryo durch die Plazenta. Nach 9 Wochen wiegt der Fötus ca. 12 g und ist etwa 4 cm groß. Er besteht nun aus ca. 1 Million Zellen. Es entwickeln sich Augen, später die Augenlider und das Hörvermögen (ca. in der 24. Schwangerschaftswoche ausgebildet). Dann nimmt das ungeborene Kind das Rauschen des Blutes der Mutter, deren Herzschlag und auch Geräusche von außen wahr. Der Geburtsvorgang verändert für das Neugeborene alles, es wird laut, hell und kalt. Vertraute Stimmen und der Herzschlag der Mutter, z.B. wahrgenommen beim Stillen, kann diese schwierige Umstellung erleichtern. 

Vor ca. 20 Jahren gab es schon Forschungen der Pränatalpsychologie, die aber zunächst belächelt wurde. Auch heute ist sie noch nicht völlig etabliert. 1986 kam nach Bowlby ein Kind noch ohne Bindungen auf die Welt (tabula rasa). Heute sind die Bindungsforscher sich aber einig, dass schon vor dem Geburtsvorgang Bindung vorhanden ist. 

Wann aber beginnt pränatale Bindung? Bindung ist eine Leistung der Seele. Ohne Leben gibt es keine Bindung, daher muss zunächst die Frage „Wann beginnt das Leben?“ beantwortet werden. Die Zuhörer hatten unterschiedliche Vorstellungen, wann das Leben beginnt. Für den einen mit dem Herzschlag, für andere bereits mit dem Austausch des Erbguts oder der beginnenden Zellteilung der befruchteten Eizelle. Frau Dr. Hug führte aus, dass zunächst verschiedene Aspekte unterschieden werden können. Rechtlich beginnt in Deutschland das Leben mit der Geburt und somit mit dem ersten Atemzug. Im Gegensatz dazu gibt es auch Länder, in denen bereits ungeborene Kinder erbberechtigt sind. Die Wissenschaft hat sich darauf geeinigt, dass der Beginn des Lebens nicht definiert werden kann. Auch ethische Ansätze helfen nicht wirklich weiter. Unter religiösem Blickwinkel ist der Beginn des menschlichen Lebens je nach Glaubensrichtung unterschiedlich definiert. So zählt im Islam der Herzschlag, im Judentum der 40. Tag der Schwangerschaft und bei den Christen bereits das Eindringen des Spermas in die Eizelle. 

Als nächstes schließt sich dann wieder die Frage an „Wann beginnt die Bindung und wie entwickelt sie sich weiter?“ Auch dazu gab es im Publikum unterschiedliche Auffassungen. Das Hören erschien einem Zuhörer besonders bedeutend, ein anderer meinte, „wenn es von außen etwas bekommt“, und eine Zuhörerin war der Meinung, dass zunächst genügend Nervenbahnen vorhanden sein müssten. 

Frau Dr. Hug stellte das Postulat auf, dass Bindung nicht entsteht, sondern IST. Die Eizelle ist ein Teil des mütterlichen Organismus, sie „denkt“ wie die Mutter. Sie enthält alle Infos des mütterlichen Individuums. Das Spermium ist zunächst Teil des väterlichen Organismus. Es enthält alle Informationen dieses Individuums und „denkt“ wie der Vater. Charakter, Emotion und Bindung werden so weitergeben. Distanzierung ist in der Gebärmutter nicht möglich, sie findet erst später statt. Die so bereits vorhandene Bindung kann sich in der Schwangerschaft weiterentwickeln. Sie wird in der Folgezeit – in der Schwangerschaft, aber auch nach der Geburt – nur gepflegt oder nicht gepflegt, und sie wird emotional gefärbt. Sie wird als sicher oder unsicher, als zuverlässig oder unzuverlässig, als etwas Positives oder etwas Negatives, als etwas Erstrebenswertes oder zur Distanz aufforderndes „erlebt“ und verinnerlicht und damit wird die spätere Bindungsfähigkeit und Bindungswilligkeit des Kindes grundgelegt. Nach Rottmann bestehen eine bewusste und eine unbewusste Einstellung der Mutter zur Schwangerschaft, die sie an das Kind signalisiert und die vom Kind wahrgenommen wird. Die beiden Botschaften können differieren. Daraus ergibt sich folgendes Schaubild            


Einstellung der Mutter zur Schwangerschaft
                 

                         bewusst                               unbewusst                           
                                           +                                             +
                                                +                                             - 

-                                                                                            + 

-                                                                                            - 

 

Die erste Gruppe (++) freut sich uneingeschränkt auf das Kind. Diese Kinder werden in der Regel nicht zur Adoption freigegeben. Die letzte Gruppe (--) wird, wenn es möglich ist, abtreiben. Die beiden mittleren Gruppen (-+ und +-) senden ambivalente Gefühle an das Ungeborene, die für die Weiterentwicklung der Bindung problematisch sind. Aus diesen beiden Gruppen werden sicher viele der zur Adoption freigegebenen Kinder stammen. Später kann es daher zu Bindungsstörungen kommen. Frau Dr. Hug stellte an dieser Stelle die Ergebnisse einer Studie von 1964 bis in die 90-iger Jahre vor, die in Prag durchgeführt wurde. Es wurde Kinder begleitet, deren Mütter 3mal erfolglos einen Antrag auf Abtreibung gestellt hatten. Überdurchschnittlich viele dieser Kinder (und deren Kinder) wurden Alkoholiker bzw. Kriminelle und hatten Bindungsprobleme. Ein Adoptivvater merkte dazu an, dass diese Kinder ja auch denkbar schlechte Startbedingungen hatten (--) und dann mit der ablehnenden Mutter eventuell in einem schwierigen Umfeld groß werden mussten. Dies sei bei Adoptivkindern ja nicht so, da sie ab Aufnahme in der neuen Familie gewollt sind und geliebt werden. Frau Dr. Hug bestätigte, dass pränatale Einflüsse und Lebensumstände nicht so leicht auseinanderzuhalten sind. Die Wissenschaft geht heute davon aus, dass nur etwa 30% der Bindungsausprägung auf äußere Einflüsse zurückzuführen sind. 

„Das Kind bekommt die Emotionen der Mutter mit“, so die Referentin: „Welche Auswirkungen hat das für Adoptiveltern?“ Die Urbindung ist das Fundament für spätere Bindungen, wobei Veränderungen durchaus möglich sind. Auch der leibliche Vater spielt dabei eine Rolle, denn die Gebärmutter kann als „Treffpunkt der Generationen“ bezeichnet werden. Gerade ihre Studie hat gezeigt, dass der Vater (Lebenspartner der Schwangeren) einen großen Einfluss auf die pränatale Bindung der Mutter zu ihrem ungeborenen Kind hat, und zwar noch vor der Mutter der Schwangeren. Das Ungeborene nimmt Emotionen mehr wahr als Gedanken, aber negative Emotionen und Gedanken mehr als positive. Adoptiveltern müssen daher in hohem Maße für Stabilität sorgen. Sie sind für die Urbindung nicht verantwortlich. Die Rolle von Adoptiv-Vätern und Müttern haben nur pragmatische Unterschiede. Jeder könnte gleich gut die Bindung zum Kind fördern. Der, der mehr anwesend ist, wird zunächst eher prägend sein. Auf die Frage, ob man mit kleinen Kindern schon therapeutisch arbeiten könnte, nannte Frau Hug einen Dr. Evertz aus Köln, der sich u. a. mit Bindungsanalyse beschäftigt. 

Aus dem Plenum heraus wurde die Frage gestellt, ob es besser für das Kind sei, wenn die leibliche Mutter es nach der Geburt betreue, da dann die bekannte Stimme und der Herzschlag noch bleiben. Frau Dr. Hug verneinte dies, da sich in den ersten Tagen die Mutter-Kind-Bindung stark entwickelt. Wenn es zu einem Bruch kommen soll, dann lieber sofort mit der Geburt. Eine anwesende Säuglingsschwester führte dazu aus, dass es für sie manchmal erschreckend sei, dass Mütter/Eltern ihr Neugeborenes oft stundenlang alleine in der Obhut von den Schwestern lassen würden. Da erginge es manchen leiblichen Kindern in Bezug auf Versorgung durch andere Personen nicht immer besser als den zur Adoption freigegebenen. 

Ein informativer und für manche Anwesenden anstrengender Abend ging zu Ende, an dem einmal mehr deutlich wurde, dass auch Adoptivkinder, die mit wenigen Tagen in ihre Adoptivfamilie kommen, keine unbeschriebenen Blätter sind. Frau Dr. Hug sei auch an dieser Stelle noch einmal gedankt für die interessanten und engagierten Ausführungen, bei denen sie nicht unausgesprochen ließ, dass es für viele Adoptivkinder ein Segen ist, bei neuen Eltern groß zu werden.        

Mit diesem Thema befasst sich auch das Buch von Inge Krenz und Gerald Hüther: Das Geheimnis der ersten neun Monate (Patmosverlag)                                                                 

 
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