Aus dem Vortrag einer Adoptierten

Petra Gundmann: Wohin gehöre ich?

Mein Vortrag zum heutigen Thema trägt den Titel „Wohin gehöre ich?“ - eine Frage, die sich nicht immer für mich so deutlich gestellt hat und mir auch heute noch fremd erscheint. Zu deutlich und zu schnell gestaltet sich dahingegen die Antwort: Zu meinen Eltern, meinem Bruder, meiner Familie. Alle anderen Überlegungen erfüllten mich bis vor kurzem noch mit einem unguten Gefühl. Dieses Gefühl stellt eine Mischung aus diversen Ängsten dar, am deutlichsten hierbei die Verlustangst, sie bezieht sich nicht nur auf den Verlust meiner Adoptivfamilie, sondern auf das eigene „Verlorensein“ und auf den Verlust alter, wohlbekannter Strukturen, seien diese auch nur auf gedanklicher Ebene präsent.

Seit einiger Zeit jedoch ist neben dieser latenten Angst noch ein weiteres Gefühl entstanden: es ist der enorme Wunsch nach einer eigenen Identität, die sich zwar frei gestalten soll, dennoch aber unmittelbarer Verbindung mit Akzeptanz meiner leiblichen Herkunft steht. Aus diesem Grund ist eine weitere intensive Konfrontation nicht zu vermeiden.

Als ich mich mit 18 Jahren auf den Weg machte, um meine leibliche Familie ausfindig zu machen, war meine Antriebskraft vor allem Neugierde. Ich hatte keine Vorstellung davon, was dies alles für mich bedeuten würde und wie sehr diese „neue Realität“ mein Leben beeinflussen würde. Bis dahin gab es für mich, wie bereits erwähnt, nur meine Adoptiveltern, meinen Adoptivbruder und mich (wobei sich mein „ich“ bis dahin fast vollständig über meine Adoptivfamilie definierte). Die einzigen Faktoren, die mich bis dahin von meiner Familie unterschieden, waren optischer Natur und die Tatsache, dass ich seit langem wusste, dass ich eine andere Herkunftsnationalität hatte als meine Adoptivfamilie. Hierbei ist vielleicht interessant zu erwähnen, dass ich, noch bevor ich meine leibliche Mutter kennen lernte, großes Interesse für deren Herkunftsland zeigte und dieses mehrmals bereiste. Gleich nach meinem 18. Geburtstag habe ich dann eine doppelte Staatsbürgerschaft beantragt und diese auch erhalten. Es mag vielleicht etwas seltsam klingen, doch dieses Stück Papier stellte damals für mich meine „ureigene Identität“ dar, und ich habe von da an über Jahre hinweg immer diesen neuen Pass bei mir gehabt, als ob ich ohne ihn nicht zu „identifizieren“ gewesen wäre (Suche nach der eigenen Identität).

Meine Herkunftsfamilie besteht aus meiner Mutter und meinen sieben Geschwistern. Außer meinen drei ältesten Geschwistern sind wir alle in Adoptivfamilien aufgewachsen. Bei der ersten Begegnung mit meiner leiblichen Mutter, es fehlt mir seltsamerweise teilweise die Erinnerung, geschah nichts von dem, was man aus netten Fernsehdramen erwartet. Es gab keinen wirklichen emotionalen Kontakt, auch in den darauf folgenden Jahren hat sich daran nichts geändert. Ich versuche bis heute diese Tatsache zu erklären, wahrscheinlich habe ich mit meiner unterschwelligen massiven Ablehnung ihrer Person dazu beigetragen. Sie stellt eben das Gegenteil all meiner (Wunsch-)Vorstellungen dar. Ich habe aber auch von ihrer Seite aus von Anfang an kein wirkliches Interesse gespürt. Ich weiß nicht, ob sie Angst vor mir hatte, Angst vielleicht, dass ich auf sie böse bin oder etwas von ihr erwarte, Angst aber vielleicht auch davor, dass ich sie wieder verlassen werde, was ich ja dann ein paar Jahre später auch getan habe. 

Ich habe ihr immer wieder gesagt, dass ich nicht böse bin, dass ich ihr nichts übel nehme und dass ich sehr dankbar dafür bin, dass sie mir das Leben geschenkt hat. Sie hat mir von ihrem Leben erzählt und sie tat mir leid, all das Pech, das sie gehabt hatte, ein schweres Schicksal. Ich habe sie niemals darauf angesprochen, warum sie mich weggegeben hat.

Ich war ein vernünftiges, harmoniebedürftiges Mädchen. Heute weiß ich, dass ich nicht dankbar sein kann. Ich bin zutiefst verletzt und enttäuscht. Meine Mutter hat mir zwar das Leben geschenkt, aber sie hat es mir auch im selben Moment wieder genommen. Sie hat mich allein und schutzlos zurückgelassen, sie hat mich VERLASSEN. Und zwar in einem Moment, in dem ich sie am meisten gebraucht hätte. Ich weiß, dass sie nicht die Kraft hatte, mich zu behalten, sie hatte nicht mal genug Kraft ihr eigenes Leben zu meistern. Ich weiß auch, dass sie nie genug Liebe bekommen hatte und diese an uns Kinder deshalb auch nicht weitergeben konnte. Aber all das sind rationale Argumente.

Meinen Schmerz über das Verlassensein werde ich damit nicht wegrationalisieren könne. Er wird mich wohl mein Leben lang begleiten, ebenso die immensen Ängste vor einer Wiederholung des Geschehens durch Menschen in meinem sozialen Umfeld.

Somit sind wir an einem wichtigen Punkt angelangt, der wohl alle Betroffenen beim Thema Adoption angeht: Schmerz. Auch der Schmerz über das verlorene Kind der abgebenden Mutter und der Schmerz der Adoptiveltern angesichts der Tatsache, kein eigenes Kind zu bekommen bzw. ein „fremdes“ Kind evtl. wirklich als fremd zu empfinden (trotz aller Integration).

Auch ich kenne mehrere Facetten des Schmerzes. Mein Dasein in meiner Familie galt als „selbstverständlich“. Obwohl meine Eltern mir dazu keinen Anlass gaben, habe ich diese Selbstverständlichkeit jedoch oft nicht als solche empfunden. Ich litt vor allem unter der Angst, einen großen Fehler zu machen und die Gunst meiner Eltern zu „verspielen“.

Noch heute habe ich Albträume, die genau diese Problematik widerspiegeln. Dies ist, so denke ich, eine typische Symptomatik bei Adoptierten und kann auch für die Adoptiveltern ungeahnte Schwierigkeiten darstellen, denn diese sind sich der Gefühle des Kindes ja nicht unbedingt bewusst, sondern nehmen nur die für sie unter Umständen unverständlichen Reaktionen wahr, wobei sich auch das Kind seiner eigenen Ängste und des damit verbundenen „neurotischen“ Verhaltens nicht bewusst ist. Viele meiner Verhaltensstrukturen nehme ich erst jetzt als „unnormal“ wahr und werde mir ihrer Ursache bewusst.

Auch dies stellt einen weiteren Grund dar, sich mit der Materie unbedingt tiefer auseinanderzusetzen. Dies ist für die Adoptierten und deren Adoptiveltern wichtig, da es, wenn auch erst im Nachhinein, zu einem besseren Verständnis führt.

Problematiken, die auch in anderen „normalen“ Familien auftreten, wurden angesichts der Tatsache der Adoption als viel schmerzlicher oder unüberwindbar empfunden. Aufgrund der enormen Verletzung des Selbstwertgefühls durch das Verlassenwerden durch die leibliche Mutter empfindet man als Adoptierter alles viel tragischer und fast jedes Problem sieht man als eine vollständige Ablehnung seiner ganzen Person. Dies führt fast zwangsweise zu einer frühen Entwicklung von „Überlebensstrategien“, die sich im späteren Alter als schwere Neurosen herauskristallisieren. (Darunter verstehe ich auch Neurosen, die in unserer Gesellschaft als „normales Verhalten“ bezeichnet werden). Das latente Gefühl, „nicht erwünscht“ zu sein, zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben. Es fällt schwer, zwischen Kritik und destruktiver Ablehnung der gesamten Person zu differenzieren.

Ich habe den Kontakt zu meiner leiblichen Mutter vor drei Jahren abgebrochen, weil ich das Gefühl hatte, meine Lebensstrukturen zu verlieren. Ich konnte zu jenem Zeitpunkt die Realität der „zwei Familien“ einfach nicht mehr ertragen und musste für mich selbst diese Entscheidung treffen. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder Kontakt zu ihr aufnehmen werde. Aber ich weiß, dass ich noch viele Fragen an sie habe und jetzt auch den Mut hätte, diese zu stellen. Über „Schuld“ würde ich jedoch auch weiterhin nicht mit ihr sprechen. Ich habe ihr nie von meinen Problemen erzählt, weil ich weiß, dass sie uns auch aus dem Grund weggegeben hat, weil sie wusste, dass es uns in einer anderen Familie besser gehen würde. Ich denke, dass ihr Leben schon genug Problematik enthält und wollte sie nicht auch noch mit meinen belasten.

Ich halte Adoption für ein sehr problematisches Unterfangen, das große Konflikte für alle Beteiligten produziert. Am meisten betroffen ist in jedem Fall das Kind, das aufgrund seiner Hilflosigkeit vollkommen dem Handeln der Erwachsenen, seien es Adoptiveltern, leibliche Eltern oder Behörden, ausgeliefert ist und dessen Schicksal von der Willkür der Beteiligten abhängt.

Kein Kind wird eine Adoption völlig unbeschadet überleben.

Es ist ein schwerer Weg, sich von diesen Gefühlen der Angst und der Wertlosigkeit im Laufe des Lebens zu trennen und ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Dieser Weg sollte auch niemals im Ignorieren der geschehenen Verletzung enden.

Doch all dies stellt auch eine Herausforderung dar. Und ich erhoffe mir am Ende dieses Weges eine vollständige, EIGENE Identität, die sich weder über meine Adoptivfamilie noch über meine leibliche Herkunftsfamilie definiert. Denn letztlich sind doch Kinder, egal ob leibliche oder adoptierte, eigene Individuen, die eben einen Teil ihres Weges im Schutz der Familie gehen.

 

(aus: Dokumentation der Fachtagung: Adoption, Heim und Pflege 1998)